Die Wahrung des Anstandes
Ungeachtet der schwierigen Lebensbedingungen und des sich mit jedem Jahr verschlechternden Zustandes der Wohnungen und des Hauses im Ganzen organisierten die Bewohner nur eine einzige Protestaktion, und zwar auf Initiative linker Aktivisten. Ihr täglicher stiller Protest nimmt keine heftigen öffentlichen Formen an. Eher verwirklicht er sich auf einer gewissen Mikroebene:
„Für was diese Aktionen, Ihre Photographien? Was soll das bringen? Wozu den Leuten noch einmal zeigen, wie wir hier leben? Nein! Das werden wir nicht tun. Es war schon eine Aktion, und was war? In der Arbeit haben alle gelacht und gesagt, Gott sei Dank müssen wir nicht so wohnen wie ihr. Man kann niemand darüber irgendwas sagen. Meine Tochter und ich wohnen ... , und das braucht niemand zu sehen.“
Diese Worte stammen von einer Frau, mit der ich öfter als mit den anderen Bewohnern am Telephon sprach. Ein paar Mal lud sie mich ein, sie für die Serie zu photographieren, sagte aber jedes Mal im letzten Moment ab. Sie verweigerte auch alle Interviews und jede Kommunikation mit Journalisten. Zieht sie es wirklich vor zu schweigen? Auch wenn ihre kleine Tochter eigentlich gänzlich andere Lebensumstände nötig hätte? Wie auch viele andere Bewohner solcher Häuser möchte sie ihre Erfahrung, ihre Situation wohl eher auf eine Weise bekunden, in der etwas „Anständiges“ zum Vorschein käme. Sie möchte ein Mittel finden, die Realität zu umgehen oder eine reine und klare Äußerung in sie hineinzuschmuggeln. Irgendein Mittel, das es ihr erlaubt, über ihren Schmerz zu reden, ohne sich noch tiefer in ihn einleben zu müssen. Allerdings ist ihr noch nichts Derartiges eingefallen.
Das Stiegenhaus der Gogolevska 32a war lange Zeit unbeleuchtet. Neben dem Eingang lagen einige Jahre halbverfaulte Holztüren herum. Seltsam, wie ein einzelnes Haus einen schlechten Ruf haben kann wie sonst ein ganzer Berzirk. Mehrmals warnten mich wohlwollende Nachbarn, vorsichtig zu sein und das Stiegenhaus nicht zu betreten, in das sie „die Kinder nicht lassen“. Sie gestanden mir, daß ich ihnen verdächtig schien, als sie sahen, wie ich nach dem Photographieren das havarierte Haus verließ. Möglicherweise sind die geschärfte Aufmerksamkeit für den Wohlstand, die gar nicht harmlose Überzeugung, daß die Armen ihr Unglück verdientermaßen ereilt, und der an Mystizismus grenzende Wunsch, sich von „derartigen Problemen“ so weit wie möglich fernzuhalten, Folgen der ideologischen Wende der letzten Jahrzehnte.
Eine der Bewohnerinnen der Gogolevska 32a erzählte, daß das Haus gegen Ende der Sowjetzeit schon in keinem idealen Zustand gewesen sei, daß jedoch das drückende Schamgefühl gefehlt habe. Es hatte nicht den Anschein, daß die verfaulte Tür und das feuchte dunkle Stiegenhaus zu einer vollwertigen Charakteristik der Bewohner werden könnten, zu einem Zeichen, das es einem erlaubte, sich eine Meinung über jene zu bilden, die nach ihrem Arbeitstag in dieses Haus gingen und nicht in irgendein anderes. Jetzt sind die Angst und die Selbstverachtung zu ständigen Begleitern dieser Frau geworden. Manchmal, wenn sie mit Kollegen von der Arbeit kommt, geht sie in fremde Eingänge, damit niemand weiß, wo sie lebt, um „den Abstand zwischen einem normalen Leben und dem meinigen zu fühlen“.
Die Bewohner des Hauses in der Gogolevska 32a erhielten ihre Zimmer in Gemeinschaftswohnungen während der Sowjetzeit, als diese gratis, nach Maßgabe der staatlichen Wohnraumnormen und ohne Wahlmöglichkeit vergeben wurden. 1988 wurde das Haus für havariert erklärt, was später die Privatisierung der Zimmer unmöglich machte. Die Bewohner solcher Häuser leben in staatlichen Wohnungen und haben nicht das Recht, sie zu verkaufen oder zu aufzuteilen. Nach statistischen Daten gibt es in Kiev heute mehr als hundert solcher Häuser. Viele von ihnen sind auf den Stadtplänen gar nicht mehr eingezeichnet, offiziell existieren sie gleichsam nicht und können jederzeit ohne Absprache mit den Bewohnern weggerissen oder von der Versorgung abgeschnitten werden.
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