понедельник, 28 марта 2011 г.

Der Alltag als Ereignis: Zum Photoprojekt Gogolevska 32 (II)

Protest. Unentwickeltes

Im Mai 2007 führten die Bewohner des Hauses in der Gogolevska 32a zum ersten und letzten Mal eine Protestaktion durch. Diese bestand in einer „symbolischen Besetzung“ des eigenen Hauses. Unter Teilnahme linker Aktivisten wurden Teile der Außenmauern und die ruinösen Balkone mit Spruchbändern und Plakaten verhangen. Ich wurde zur Aktion eingeladen und lernte in ihrem Verlauf alle künftigen Teilnehmer des Photoprojektes kennen. Jetzt, nach drei Jahren des Gespräches mit den Bewohnern, habe ich zu verstehen begonnen, warum diese Aktion die einzige blieb und warum die Hausparteien ungeachtet der für sie so ungewohnten und ungewollten Form der Verteidigung ihrer Rechte sich dennoch entschlossen, sie durchzuführen. Die „Besetzung des eigenen Hauses“ zielte auf die staatlichen Stellen und ihre Reaktion ab und war zudem ein Aufstand gegen die personalisierte, knechtende und unterordnende Verbindung mit den kaputten Lebensumständen, mit der territorialen Kennzeichnung des sozioökonomischen Verstoßenseins. Die Metapher der „Besetzung“ war geeignet, einen Teil der Verluste aus dem ständigen erfolglosen Kampf mit den Beamten und den verächtlichen Blicken der Nachbarn, Arbeitskollegen und Mitschülern zu ersetzen. Die durch sie ausgedrückte Absurdität der Eroberung der eigenen Hoffnungslosigkeit zwang die Scham und die Schuldgefühle der Bewohner, in den Hintergrund zu treten:
„Wir nennen das eine Baracke. Wir leben in einer Baracke und schauen schon zehn Jahre den Rissen zu, wie sie größer werden. Im Winter kommt die Kälte herein. Wir haben nichts, keine Freunde, keine Gäste, und wir werden auch keine Gäste haben! Welche Gäste kann man denn hier haben? Wenn die Leute doch sehen, wie man leben muß und kann und wenn sie dann uns sehen. Sie verstehen oder sie verstehen nicht, aber sie lachen oder sie wundern sich. Manchmal hören sie auf, uns zu grüßen, wenn sie erfahren, wo wir wohnen. Und wir, wir haben uns daran gewöhnt. Vielleicht haben wir das also auch verdient? Denn der Plafond ist nicht geweißt, folglich sind wir selbst schuld und wollten nicht leben wie normale Menschen. (...) Wir haben keine Kraft. Manchmal möchte man sich das Ganze als Außenstehender ansehen, als Gast, und verstehen, was jetzt zu tun ist, doch es fehlt die Kraft. Man kommt her und fällt hin vor Müdigkeit. (...) Wenn die Rettung zu uns kommt, dann geht sie nicht immer bis zur Wohnung. Manchen wird schon im Stiegenhaus alles klar.“
In ihrer Beschreibung ihres erzwungen einsamen Lebens gibt Natalija gleichsam fremde Worte wieder, bedient sich eines dämonisierenden Diskurses, demgemäß die Außerkraftsetzung der allgemein gültigen sozialen Normen und Garantien, sogar der medizinischen Hilfe, für das havarierte Haus als völlig gerechtfertigt erscheint. Die Lage der Bewohner erinnert an die paradigmatische Beschreibung der Ghettoisierung und urbanen Marginalisierung, die der in den USA tätige Soziologe Loïc Wacquant gibt: „Diese Bezirke sind genau abgegrenzt - sowohl durch die Bewohner selbst als auch durch die äußeren Betrachter - als städtische Kloaken voller Entbehrung, Unsittlichkeit und Gewalt, in denen nur der Abschaum der Gesellschaft leben kann.“[1] Die einfach und bequem erscheinende Bereitschaft, die Situation so zu nehmen, wie sie vom Standpunkt der ephemeren aufgezwungenen sozialen Norm aussieht, ist schmerzhaft und ruft den Wunsch hervor, sich von ihr zu befreien.
Die Besetzung des eigenen Hauses kann man als eine Art Entfremdungseffekt verstehen, der nach Viktor Schklovskij eine Sache aus dem „Automatismus der Wahrnehmung“ hinausführt: „nicht die Annäherung der Bedeutung an unser Verständnis, sondern die Schaffung einer besonderen Wahrnehmung des Gegenstandes, die Schaffung einer Sicht auf ihn, nicht seiner Erkenntnis.“[2] Mit einer solchen Befreiung von der Wirklichkeit, beziehungsweise mit dem Versuch, sie anders zu interpretieren, hat die in einer der Wohnungen aufgenommene Photoserie zu tun.
Die Heldinnen dieser Aufnahme sind Irina und Svetlana, Mutter und Tochter. Sie bewohnen einige kalte Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung, die in den letzten Jahren immer leerer geworden ist. In diesen geräumigen Zimmern erfaßte mich immer ein Gefühl der Leichtigkeit, die in das halbzerstörte Haus drang. Gäste haben sie, wie auch die übrigen Bewohner, praktisch nie, jedoch nicht aus einem bedrückenden Schamgefühl „für Zustände, schlimmer als bei den Tieren“, wie eine der Bewohnerinnen es ausdrückte, sondern aufgrund permanenten Zeitmangels.
Einen Großteil ihres Lebens arbeitete Irina an drei Arbeitsstellen gleichzeitig. Jetzt ist Sveta dabei, ihr Medizinstudium zu beenden, doch auch sie ist an drei Arbeitsstellen gleichzeitig beschäftigt und hat nie einen freien Tag. Jedoch ist sie trotz dieser Geschäftigkeit zu einem Leben in ständiger Sparsamkeit gezwungen - die Arbeitgeber boten in der gesamten Zeit seit der Unabhängigkeit der Ukraine beiden Frauen nur den Mindestlohn (in den Jahren 2010 und 2011 betrug er 700 Hryvnja), und das Monatsbudget der Familie liegt für gewöhnlich deutlich unter dem Existenzminimum.



Für Irina und Svetlana wurde die Photographie zu einem Mittel, das Gewohnte, Alltägliche in einen individuellen Sonderfall zu verwandeln und ihre persönliche Geschichte als eine fremde zu erleben. Die Glaubwürdigkeit und die Einmaligkeit der Photographie brachten sie dazu, sich von den üblichen Vorstellungen über ihre Situation zu befreien, sogar die Grenzen des eigenen Wirklichkeitssinnes zu überschreiten und in die Textur der Darstellung ein anderes Verständnis hineinzuflechten, das die gewohnte Erfahrung transzendiert:
„Mir gefällt dieses Zimmer sehr, es ist groß und geräumig. Wir sind es wahrscheinlich gewöhnt, hier zu leben und könnten unser ganzes restliches Leben hier verbringen, wenn die feuchten Wände nicht wären. Dieses Haus ist alt, man gewöhnt sich an es und gewinnt es lieb, ganz anders als ein neues Haus. Sie sehen diesen Riß. Ihn, diese Zeichnung an der Wand, schaue ich seit Jahren an. Ich bemerke ihn nicht und kann ihn zugleich nicht übersehen. Ich will ihn herzeigen, sehe ihn aber selbst nicht und will ihn womöglich nicht sehen. Ich will etwas anderes sehen. Zum Beispiel das, was Sie sehen (...) .“ (Irina)


[1] Wacquant L. Urban Marginality in the Coming Millennium // UrbanStudies. 1999. Vol.36. № 10. P. 1639-1647.
[2] Schklowski Viktor. Die  Kunst als Verfahren. in: Jurij Strieder (Hg.): Russischer. Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und Theorie der Prosa, München, 1974

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